Im Chamisko-Camp nordwestlich der Stadt Dohuk haben über 20.000 Jesiden Zuflucht gefunden. Die ISIS-Terroristen richteten besonders grausame Massaker unter der in den Bergen eingekesselten Minderheit an. Tausende von Frauen wurden vergewaltigt und versklavt. Viele Jesiden haben heute noch Angst, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl einige schon seit drei Jahren in Zelten leben.
„Die Psychologin Hairan Khalifa Fadia hat mir von einem Mädchen erzählt, das vom IS versklavt worden ist und fliehen konnte. Niemand durfte sie anfassen, sie hat nicht geredet. Eine Woche lang hat Fadia jeden Tag mit ihr gesprochen, erst dann hat sie sich untersuchen lassen. Aber es wird noch Monate dauern, bis es ihr besser geht“, berichtet Ute Zurmühl von ihrer Reise.
Eine andere Patientin sei schwer depressiv gewesen und habe versucht, sich das Leben zu nehmen. Innerhalb eines Dreivierteljahres sei es gelungen, sie zu stabilisieren. Nun sieht die junge Frau wieder optimistischer in die Zukunft, wünscht sich sogar ein Kind.
Die Psychologen arbeiten viel verhaltenstherapeutisch, indem sie den Patienten zum Beispiel Entspannungsmethoden beibringen, die diesen helfen sollen, mit den Folgen der Traumatisierung umzugehen. Schwere Fälle werden daneben medikamentös behandelt. Aber auch Gesprächstherapien würden gut angenommen, erzählt Zurmühl. Die Menschen seien einfach dankbar, sich einmal alles von der Seele reden zu können. „Der integrative Ansatz, der verschiedene Methoden miteinander kombiniert, hilft, das Stigma einer psychologischen Behandlung abzubauen.“
Häufig gäben die Männer den Stress, den die Flucht und das Leben im Lager erzeugen, an ihre Familien weiter. Die Mutter eines jungen Mädchens wandte sich etwa an die Psychologen, da ihr Mann der gemeinsamen Tochter nicht erlaubte, das Zelt zu verlassen. In solchen Fällen suchen Mitarbeiter von Ärzte der Welt auch mal die Familien auf.
Die Temperaturen schwanken stark in dem Lager. Auch die Krätze ist schon ausgebrochen.
Völlig überlaufen sei der überdachte Wartebereich der Ärzte der Welt-Gesundheitsstation im Nasrawa Camp in der Nähe der Stadt Kirkuk zu Beginn gewesen, erzählt Ute Zurmühl. Nicht wegen der vielen Kranken, sondern weil der schattige Platz ein beliebter Treffpunkt war. Inzwischen gibt es ein ausgeklügeltes System, mit dem sichergestellt wird, dass sich nur noch tatsächlich Kranke dort aufhalten und die Bedürftigsten, wie zum Beispiel schwangere Frauen und kleine Kinder, zuerst dran kommen. Die meisten Patienten leiden an einem Hitzeschlag oder an Erkältungskrankheiten. Aber auch die Krätze ist in dem Lager, wo fast 8.000 Vertriebene auf engem Raum in Zelten leben, schon ausgebrochen. Schwer Kranke bringt ein Ambulanzwagen in das nächste Hospital.
In Nasrawa arbeitet auch Dr. Rhadwan, einer der wenigen klinisch ausgebildeten Psychotherapeuten im Irak. „Die schlimmen Traumafolgen brechen oft erst dann aus, wenn der Körper zur Ruhe gekommen ist“, sagt er.
Rhadwan schult die Diplompsychologen, die für Ärzte der Welt in dem Lager arbeiten. Die meisten sind Einheimische, einige sind selbst vor dem IS geflohen. Einmal die Woche kommt er in das Lager, um sie als Supervisor zu unterstützen.
Bei allen Projekten ist Ärzte der Welt daran gelegen, dass diese auch über ihre Laufzeit hinaus den Menschen vor Ort nützen. Das medizinische Personal der kurdische Regierung arbeitet im Nasrawa-Camp Seite an Seite mit den Kolleg(inn)en von Ärzte der Welt.
Denn obwohl die Region Hilfe bei der Versorgung der über 3 Millionen intern Vertriebenen benötigt, gibt es ein grundsätzlich gut funktionierendes Gesundheitssystem. Allerdings hat das zuständige Ministerium Medizinern dort das Gehalt unlängst um die Hälfte gekürzt. Ein Druckmittel der irakischen Regierung als Reaktion auf die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen, sagen Kritiker. Für September hat Kurden-Führer Masud Barzani ein Referendum angekündigt.
Basierend auf ihren Gesprächen vor Ort, glaubt Ute Zurmühl zwar, dass das Referendum Spannungen zwischen verschiedenen Interessengruppen neu befeuern könnte, allerdings würden diese Konflikte wohl nicht allzu schnell eskalieren. „Im Moment hat man ja noch einen gemeinsamen Feind, den IS.“
Denn obwohl es während Zurmühls Aufenthalts gelang, Mossul zu befreien, ist ISIS noch nicht aus der Region vertrieben. Solange nicht wirklich Frieden herrscht, ist sie sich sicher, werden die Lager bleiben. Solange wird auch die Arbeit von Ärzte der Welt nötig sein.
Das Programm von Ärzte der Welt im Irak wird vom Auswärtigen Amt unterstützt.
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