Ärzte der Welt, Poliklinik-Syndikat, vdää* und BAG W fordern eine niedrigschwellige Primärversorgung für alle in Deutschland lebenden
Menschen!
Wir begrüßen das Vorhaben der Bundesregierung, niedrigschwellige Primärversorgungsstrukturen aufzubauen, die einen diskriminierungsfreien Zugang zu gesundheitlicher Versorgung
für alle in Deutschland lebenden Menschen schaffen. In den Eckpunkten für Gesundheitskioske wurden gute Ansätze einer niedrigschwelligen Primärversorgung aufgezeigt, wie der einfache Zugang, die Lotsenfunktion, die Anerkennung sozialer Determinanten von Gesundheit, die Einbeziehung von Gesundheitsförderung und Prävention und die enge Vernetzung mit anderen Akteur:innen im Stadtteil bzw. in der Region. Diese Ansätze reichen jedoch nicht
aus: es braucht vielmehr einen Paradigmenwechsel hin zu einem Primärversorgungssystem. Um den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden und Antworten auf die bestehenden sozialen Ungleichheiten zu liefern, müssen grundlegend neue Wege eingeschlagen werden. Dazu gehört auch die flächendeckende Einführung von Primärversorgungszentren,
die multiprofessionell und niedrigschwellig versorgen. Eine moderne Primärversorgung sollte im Sinne eines Public-Health-Ansatzes über die individuelle Ebene hinaus spezifische Bedarfe von Bevölkerungsgruppen in den Blick nehmen und so auch auf die Lebensverhältnisse von
besonders vulnerablen Patient:innengruppen fokussieren.
Auf Grundlage der langjährigen Erfahrungen von Ärzte der Welt und der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) in der Schaffung niedrigschwelliger Angebote für Menschen in prekären Lebenssituationen und der gesundheitspolitischen Analysen und
konzeptionellen Vorarbeiten des Poliklinik-Syndikats und des Vereins demokratischer Ärzt*innen (vdää*) empfehlen wir, folgende Aspekte bei den anstehenden Gesetzgebungsverfahren zur Weiterentwicklung der Primärversorgung zu berücksichtigen:
- Gesundheitsversorgung für ALLE: Primärversorgungsstrukturen haben eine gesundheitliche Versorgung für alle Menschen anzubieten, auch für Menschen, die keinen Krankenversicherungsschutz oder nur eingeschränkten Anspruch auf gesundheitliche Versorgung haben: Menschen ohne Krankenversicherung oder mit Beitragsschulden, erwerbslose EU-Bürger:innen, Asylsuchende, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, wohnungslose Menschen und andere, die weitgehend von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind.
- Multiprofessionelle Teams: Primärversorgungszentren, in denen multiprofessionelle
Teams Beratung, Prävention und Gesundheitsförderung, aber auch ärztliche Versorgung anbieten, die gemeinsame Fallbesprechungen und eine gemeinsame Dokumentation haben, sind wertvoller als Angebote, die vor allem auf Koordination und Navigation in den bestehenden Strukturen ausgerichtet sind. Neben pflegerischer und medizinischer Kompetenz ist wichtig, auch sozialarbeiterische Kompetenz und psychosoziale Beratungsexpertise vorzuhalten, um Klient:innen u.a. zu ihren Ansprüchen auf Gesundheitsleistungen beraten und bei deren Durchsetzung unterstützen zu können. - Community Health Nursing und längerfristige Fallbegleitung ermöglichen:
Primärversorgungsstrukturen sollten eine längerfristige und kontinuierliche Fallbegleitung anbieten. Der Einsatz von hochschulisch qualifizierten Community Health Nurses, die Menschen mit chronischen Erkrankungen bei der Bewältigung ihres Alltags unterstützen, sie anleiten und beraten, Versorgungsprozesse steuern und koordinieren können, eigenständige Versorgung anbieten und auch aufsuchende Angebote machen, ist hierfür notwendig. - Gemeinwesenarbeit und Verhältnisprävention stärken: Armut, schwierige Lebens-
bedingungen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, schlechte Wohnsituationen, Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen bedeuten Stress und machen krank. Gemeinwesenarbeit und Verhältnispräventionsmaßnahmen, wie Informations- und Vernetzungveranstaltungen zu krankmachenden Faktoren in den Arbeits- und Wohnbedingungen, sind daher wichtige Bausteine einer guten Primärversorgung. - Sprachbarrieren abbauen: Um eine bedarfsgerechte Unterstützung zu gewährleisten, bedarf es einer guten Verständigung. Für die Beratung und Versorgung von Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse muss daher die Verfügbarkeit und Finanzierung qualifizierter Sprachmittlung gewährleistet werden. Gesundheitsinformationen müssen in einfacher Sprache verfügbar sein, damit sie für alle Menschen verständlich sind. Primärversorgungsstrukturen sollten Materialien in einfacher Sprache vorhalten und Gesundheitsfachkräfte sind im Gebrauch einfacher Sprache zu schulen.
- Versorgungsqualität sichern: Gute Primärversorgungsstrukturen benötigen gute Rahmenbedingungen wie ausreichend personelle Kapazitäten und zeitliche Ressourcen, um auch Menschen mit komplexen gesundheitlichen und sozialen Unterstützungsbedarfen gerecht werden zu können. Beratungen von Patient:innen mit komplexen Unterstützungsbedarfen brauchen wesentlich mehr Zeit als aktuell vorgesehen. Finanzierungsmodelle für Primärversorgungsstrukturen sollten dies berücksichtigen. Bezüglich des Personalbedarfs sollte auf Erfahrungen von bestehenden Modellprojekten und niedrigschwelligen Versorgungsangeboten zurückgegriffen werden. Gesundheitliche Versorgung darf nicht von
ehrenamtlichem Engagement abhängen. - Partizipation ermöglichen: Patient:innen und Nutzer:innen sowie Selbstvertreter:innen von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sollten in die Planung, Ausgestaltung, Umsetzung und Weiterentwicklung von Primärversorgungsstrukturen eingebunden werden, zum Beispiel in Form eines Beirats oder Community Boards. Auch darüber hinaus gehende Möglichkeiten der politischen Teilhabe sollten Patient:innen und Nutzer:innen aufgezeigt werden. Zudem sollte eine enge Zusammenarbeit mit Erfahrungsexpert:innen und Multiplikator:innen angestrebt werden.
- Vertraulichkeit sicherstellen: Primärversorgungsstrukturen dürfen persönliche Daten nur mit Einverständnis ihrer Patient:innen und Nutzer:innen speichern oder weitergeben. Die Schweigepflicht hat für alle Mitarbeitenden zu gelten.
- Zusammenarbeit mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst: Primärversorgungsstrukturen sind in übergreifenden kommunalen Prozessen wie zum Beispiel in Gesundheitskonferenzen und in enger Zusammenarbeit mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst auf Grundlage einer umfassenden kommunalen Sozial- und Gesundheitsberichterstatung zu planen und weiterzuentwickeln.
- Vernetzung mit anderen niedrigschwelligen Unterstützungsstrukturen: Eine enge
Verzahnung mit anderen Unterstützungsstrukturen, wie zum Beispiel mit Clearingstellen zur Krankenversicherung oder Strukturen der Wohnungsnotfallhilfe ist sicherzustellen. - Forschung, Evaluation und Vorgaben an die Politik: Eine regelhafte interne und externe Begleitforschung von Primärversorgungsstrukturen ist von Beginn an einzuplanen. Hierbei sind auch Menschen ohne Krankenversicherungsschutz und ohne Meldeadresse zu berücksichtigen, die in Survey- und Routinedaten nicht hinreichend abgebildet werden. Forschungsergebnisse zu Versorgungslücken, krankmachenden Lebensbedingungen und strukturellen Missstände sollten bei politischen Entscheidungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene berücksichtigt werden.
- Keine Profite mit der Gesundheit: Primärversorgungsstrukturen müssen frei sein von kommerziellen Interessen und in freigemeinnütziger oder kommunaler Trägerschaft aufgebaut werden.
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