Eine Mitarbeiterin von Ärzte der Welt versorgt eine Patientin. Foto: Ärzte der Welt

Für eine verantwortungsvolle Migrationspolitik

Ein Appell an die neue Bundesregierung

Über 290 Organisationen appellieren an die neue Bundesregierung.

Mit ihrem Koalitionsvertrag stellen Union und SPD die Verantwortung für Deutschland ins Zentrum ihres Handelns. Zum Amtsantritt der Regierung machen 293 Organisationen und Verbände deutlich: Diese Verantwortung muss für alle Menschen in Deutschland gelten.

Der Wahlkampf war geprägt von einer aufgeheizten Stimmung, die sich vor allem gegen
Geflüchtete und Zugewanderte richtete. Das hat sich auch im Koalitionsvertrag
niedergeschlagen. Doch die Ausgrenzung einzelner Gruppen schafft ein Klima der Angst für alle und untergräbt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am Ende nützt das nur den Feinden einer freiheitlichen Demokratie. Damit muss endlich Schluss sein.

Zugewanderte und hierher geflüchtete Menschen sind integraler Teil unserer Gesellschaft – sie gehören zu Deutschland. Sie bereichern uns in allen Bereichen, ob in Familie und Freundeskreis, der Nachbarschaft, den Schulen, den Sportvereinen oder den Betrieben. Viele von ihnen leisten jeden Tag unverzichtbare Arbeit – im Einzelhandel, im Krankenhaus, in der Industrie, in der Gastronomie, an Flughäfen, im öffentlichen Nahverkehr oder ehrenamtlich in Vereinen und gemeinnützigen Organisationen. Für uns ist klar: Unsere Gesellschaft gewinnt ihre Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Überzeugung, dass allen Menschen gleiche Rechte zukommen.

Nicht Geflüchtete und Zugewanderte spalten unsere Gesellschaft, sondern eine Politik, die sich den strukturellen und sozialen Problemen unseres Landes zu lange nicht konsequent angenommen hat. Die mittlerweile in der Gesellschaft verbreiteten Gefühle von Verunsicherung und Überforderung beim Thema Flucht und Migration werden somit noch verstärkt, anstatt ihnen mit guten Konzepten für eine funktionierende Asyl-, Aufnahme-, und Integrationspolitik zu begegnen. Für die hohe Belastung von Kommunen und einzelnen Berufsgruppen im Zusammenhang mit Migration werden allein Geflüchtete verantwortlich gemacht, anstatt die tatsächlichen sozialen, politischen und finanziellen Ursachen dieser Belastung anzugehen. So darf es nicht weitergehen. Was es jetzt braucht, ist eine Migrationspolitik, die verantwortlich handelt, statt unsere offene und vielfältige Gesellschaft zu gefährden.

Eine solche verantwortungsvolle Migrationspolitik…

  • … schützt die Rechte der Einzelnen und somit aller – das gilt insbesondere auch für
    das Recht auf Asyl.
    Das Bekenntnis zum Recht auf Asyl im Koalitionsvertrag ist
    essentiell, reicht aber allein nicht aus. Es muss auch gelebt werden. Zurückweisungen
    an den Grenzen, Abschiebungen in Krisenländer und eine Beweislastumkehr im
    Asylverfahren zulasten Geflüchteter sind damit nicht vereinbar.
  • … nimmt Sorgen und Ängste ernst, ohne sie zu befeuern. Eine demokratische
    Gesellschaft lebt von der streitbaren Diskussion und verschließt nicht die Augen vor Herausforderungen. Doch dabei darf die kommende Bundesregierung nicht den
    humanitären und menschenrechtlichen Kompass verlieren, der Grundlage unseres
    Zusammenlebens ist.
  • … fördert die Integration aller Menschen. Die nächste Bundesregierung sollte
    Familien Sicherheit bieten, statt mit der Aussetzung des Familiennachzugs Integration
    zu verhindern. Auch braucht es weiterhin Chancen für diejenigen, die schon lange bei
    uns sind, weshalb das Erfolgsmodell des Chancen-Aufenthaltsrechts entfristet werden sollte. Für ein freiheitliches Zusammenleben müssen zudem Wege zu sicheren und gleichen Bürgerrechten durch Einbürgerung eröffnet werden, die keine Gruppen ausschließen. Integration darf dabei nicht allein von der Arbeitsmarktintegration abhängig gemacht werden, sondern es muss allen möglich sein, gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden.
  • … investiert in Strukturen für erfolgreiche Integration und Aufnahme. Die im
    Koalitionsvertrag benannten Investitionen in die Integrationsstrukturen sind von
    entscheidender Bedeutung und dürfen nicht unter Finanzierungsvorbehalt gestellt
    werden. Dies gilt insbesondere für die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Beratungsund Betreuungsstrukturen sowie Integrations- und weitere Sprachkurse. Integration gelingt vor Ort in den Kommunen – diese müssen daher für ihre Aufgaben effektiv, umfassend und nachhaltig finanziell ausgestattet werden.
  • … nutzt alle vorhandenen Potentiale. Angesichts des Fachkräftemangels sollte die
    Bundesregierung konsequent alle vorhandenen Potentiale von hier ankommenden
    und lebenden Menschen nutzen und Hürden für Qualifikation und Arbeitsaufnahme
    abbauen. Hier sind bereits wichtige Schritte im Koalitionsvertrag vereinbart, doch
    braucht es darüber hinaus einen echten Spurwechsel und den konsequenten Abbau
    der Arbeitsverbote für alle Geflüchteten. Auch Gruppen wie Alleinerziehende oder
    Geflüchtete mit Behinderungen müssen beim Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützt
    werden.
  • … schaut über den nationalen Tellerrand. Den weltweit zu beobachtenden
    autoritären Entwicklungen sollte die neue Bundesregierung mit der Verteidigung einer offenen, liberalen Gesellschaft begegnen, statt die Verantwortung für den
    Flüchtlingsschutz durch die Streichung des sogenannten „Verbindungselements“ auf
    Drittstaaten abzuwälzen oder sich durch fragwürdige Abkommen mit Drittstaaten in
    politische Abhängigkeiten zu begeben. Sie sollte sich für eine solidarische
    Verantwortungsteilung im internationalen Flüchtlingsschutz einsetzen und sichere
    Zugangswege in Form von Resettlement und Aufnahmeprogrammen eröffnen, statt
    sie zu beenden.

Die unterzeichnenden Verbände leisten täglich ihren Beitrag für eine Gesellschaft, die ihre Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Zusammenarbeit von Menschen verschiedenster Herkunft, Hintergründe und Fähigkeiten gewinnt. Wer die Demokratie verteidigen will, muss auch die Zivilgesellschaft und insbesondere migrantische Selbstorganisationen achten und stärken.

Daher appellieren wir an die Bundesregierung: Übernehmen Sie Verantwortung für eine offene Gesellschaft! Eine Gesellschaft, in der Einwanderung unterschiedlichster Art als Chance begriffen wird; in der Zugewanderte und Geflüchtete als gleichwertig anerkannt werden; in der Offenheit und Vielfalt als unsere Stärken begriffen werden.

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