Kind zwischen Zelten am Grenzzaun zwischen Griechenland und Mazedonien (FYROM).

Perspektiven für geflüchtete Kinder schaffen

Appell der unterzeichnenden Organisationen und Stiftungen an Bund, Länder und Kommunen anlässlich des Flüchtlingsgipfels am 6. November 2023

Das Thema Zuwanderung bewegt derzeit die Politik in Deutschland. Die Änderung von Gesetzen und weitere Maßnahmen sind im Gespräch, um die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren und Kommunen zu entlasten, aber auch, um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Bundeskanzler Olaf Scholz hat deshalb für den 6. November 2023 die Bundesländer zu einem Flüchtlingsgipfel eingeladen, bei dem über die Verteilung von Aufgaben und deren Finanzierung entschieden werden soll.

Dabei wird in der Debatte nicht genügend berücksichtigt, dass etwa ein Drittel der nach Deutschland geflüchteten Menschen unter 18 Jahre alt ist und damit unter die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention fällt. Der Flüchtlingsgipfel bietet eine Chance, die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die Aufnahme von schutzsuchenden Kindern mit ihren Familien und von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten neu zu gestalten. Bei diesem Austausch sollten künftig auch zivilgesellschaftliche Organisationen zu Rate gezogen und gehört werden.

Kinder brauchen eine verlässliche Lebensperspektive, ungeachtet ihres Herkunftslandes und Aufenthaltsstatus. Während die politische Debatte droht, auf Abschottung und Abschiebungen verengt zu werden und Fragen der besseren Integration eine untergeordnete Rolle spielen, leben sowohl begleitete Kinder in Sammelunterkünften als auch unbegleitete Kinder in Obhut der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe unter prekären Bedingungen mit begrenzten Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Eine kinderrechtsbasierte Unterbringung und Versorgung sind kaum gegeben.

Wir sind deshalb besorgt über die Situation von begleiteten und unbegleiteten geflüchteten Kindern.

Länder und Kommunen bauen angesichts eines erhöhten Zuzugs von schutzsuchenden Menschen immer wieder in kürzester Zeit Kapazitäten auf. Insbesondere die öffentliche Kinderund Jugendhilfe hat in den Jahren 2016 und 2017 das Inobhutnahmesystem massiv ausgebaut, um unbegleitete minderjährige Geflüchtete adäquat aufzunehmen und zu betreuen. Aktuell sehen sich Länder und Kommunen allerdings an der Belastungsgrenze.

In Anerkennung dieser politischen und gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen bekräftigen wir deshalb unseren Appell vom Mai 2023 an Bund, Länder und Kommunen, die Rechte von geflüchteten Kindern und Jugendlichen einzuhalten und fordern, diese zum Prüfstein aller in Diskussion stehenden politischen Lösungsvorschlägen zu machen. Das betrifft insbesondere die Unterbringung, den Zugang zur öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, den Zugang zu frühkindlicher Bildung und Regelschule sowie die Identifizierung von besonderen Schutzbedarfen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das übergeordnete Ziel aller politisch verantwortlichen Stellen muss darin bestehen, geflüchteten Kindern eine Perspektive auf eine normale Kindheit zu eröffnen.

Für den Austausch zwischen Bund, Ländern und Kommunen fordern wir:

Dezentrale Unterbringung von geflüchteten Kindern ermöglichen

  • Bund, Länder und Kommunen sollten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, damit geflüchtete Kinder und ihre Familien unmittelbar in Wohnungen oder wohnungsähnlichen Kontexten leben können. Hierfür sollte die Wohnverpflichtung in Aufnahmeeinrichtungen aufgehoben, zumindest aber verkürzt, werden.
  • Sofern die dezentrale Unterbringung nicht möglich ist, sollten Länder und Kommunen sicherstellen, dass in allen Unterkunftsformen für geflüchtete Menschen kinderrechtliche Mindeststandards verbindlich gelten und überprüft werden.

Zugang zur öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe für begleitete und unbegleitete geflüchtete Kinder sicherstellen

  • Die Kommunen sollten geflüchtete Kinder umfassend in der Jugendhilfeplanung berücksichtigen, die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend ausbauen und geflüchtete Kinder und ihre Familien in verständlicher Weise über ihre Möglichkeiten informieren.
  • Länder und Kommunen sollten die Absenkung von Standards in der Kinder- und Jugendhilfe zurücknehmen und unbegleitete minderjährige Geflüchtete konsequent nach den regulären Standards des SGB VIII unterbringen und versorgen. Wo erforderlich, sollten entsprechende Voraussetzungen hierfür geschaffen werden.
  • Unsicherheiten bei den Alterseinschätzungsverfahren dürfen nicht zum Nachteil junger Geflüchteter ausgelegt werden. Ebenso braucht es verbindliche Mindeststandards bei der Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme.

Zugang zu frühkindlicher Bildung und Regelschulen ermöglichen

  • Bund, Länder und Kommunen sollten dafür sorgen, dass geflüchtete Kinder unmittelbar faktischen Zugang zu frühkindlicher Bildung erhalten.
  • Alle Bundesländer sollten geflüchteten Kinder unmittelbar, spätestens jedoch nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland, einen faktischen Zugang zur Regelschule ermöglichen.
  • Beschulungsangebote in Aufnahmeeinrichtungen ersetzen die Regelschule nicht. Diese Angebote sollten sich am Lernstand orientieren, altersdifferenziert sein und von staatlich anerkannten Lehrkräften durchgeführt werden.

Frühzeitige Identifizierung von besonderen Bedarfen und Zugang zur Gesundheitsversorgung sicherstellen

  • Bund und Länder sollten Verfahren für die Identifizierung und Versorgung von besonderen Schutzbedarfen verbindlich verankern und die Umsetzung sicherstellen.
  • Bund, Länder und Kommunen sollten den Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems und der Eingliederungshilfe für geflüchtete Kinder sicherstellen, insbesondere für Kinder mit besonderen Unterstützungs- oder Behandlungsbedarfen.
  • Bund und Länder sollten auf Kinder und Familien spezialisierte Fachberatungsstellen strukturell unterstützen und deren Finanzierung sicherstellen.

Kontakt

Haben Sie Fragen oder Anmerkungen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir sind für Sie da.

Dr. Johnna Offe, Leitung Advocacy

Dr. Johanna Offe

Leitung Advocacy

Tel: +49 (0)30 26 55 77 72

E-Mail: johanna.offe@aerztederwelt.org

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