Während ihrer Kindheit und Jugend in Afghanistan musste unsere Kollegin Salima Aryaanfar bereits mehrere schwere Krisen meistern. Im Interview erzählt sie, wie massiv sich ihr Leben durch die Machtübernahme der Taliban verändert hat und wie sie in Deutschland neu anfangen konnte.
Salima, Du bist in Masar-i Scharif im Norden Afghanistans aufgewachsen. War es dort selbstverständlich, dass Du als junges Mädchen die Schule besucht hast?
Bei uns in Afghanistan war es tatsächlich kaum üblich, dass die Frauen selbst entscheiden, was sie in der Zukunft werden möchten. Und bei mir war es genauso. Ich war das einzige Mädchen in meiner Familie, das unbedingt zur Schule gehen wollte. Ich bin die ersten Jahre heimlich in sogenannte CBC, also „Community Based Classes“ gegangen. Das ist ein öffentliches Bildungsangebot auf der Basis von selbstorganisierten Lerngruppen. Ich habe zwei Klassen übersprungen und konnte die vierte Klasse schon nach zwei Jahren abschließen.
Wie sind Deine Eltern damit umgegangen?
Meine Mutter wusste, dass ich zu diesen CBC-Kursen gehe. Vor meinem Vater haben wir das verheimlicht. Meine Schulmaterialien habe ich versteckt.
Danach wollte ich in eine staatliche Schule gehen, und mein Vater hat davon erfahren. Glücklicherweise konnte ich ihn überzeugen und so habe ich die Schule bis zur zwölften Klasse besucht. Ich wusste damals schon, dass ich später unbedingt an die Universität gehen und Journalismus studieren möchte. Alle meine Freundinnen und Freunde haben gesagt, dass ich so eine starke Stimme für die Rechte der Frauen wäre.
Mein Vater wollte, dass ich Lehrerin werde, obwohl das gar nicht meine Leidenschaft war. Aber er hat sich durchgesetzt und so habe ich nach dem ersten Semester die Fächer englische Literatur und Sprache sowie Lehramt studiert. Das ist mir schwergefallen. Aber ich habe beschlossen, es einfach durchzuziehen.
Was hast Du dann nach der Universität gemacht?
Ich habe unter anderem ehrenamtlich im Jugendamt gearbeitet. Und schon während meines Studiums habe ich als freiberufliche Übersetzerin gearbeitet. Zunächst vor allem für NGOs im Bildungsbereich und unter anderem auch die NATO-Truppen. Danach habe ich für die französische NGO ACTED als Praktikantin gearbeitet.
Bei ACTED wurde mir klar, dass ich meine Zukunft in der humanitären Arbeit und in humanitären Projekten sehe. Von 2016 bis 2021 habe ich mich dort von der Praktikantin zur Projektmanagerin weiterentwickelt. In Zusammenarbeit mit anderen NGOs haben wir vom Krieg vertriebene Familien von Anfang an unterstützt, von ihrer Migration bis hin zum Integrationsprozess.
Das war sicher eine herausfordernde Arbeitssituation.
Ja, das war schwer, denn unsere Arbeit fand an Orten statt, die von Krieg oder Naturkatastrophen betroffen waren. Alle unsere Begünstigten waren Menschen, die ihre Lebensgrundlage und ihr Zuhause verloren haben und geflüchtet waren. Ich habe mehrfach Menschen geholfen, die durch Krieg oder Explosionen verletzt worden waren.
Es war für uns wichtig, Zugang zu allen Regionen zu bekommen. Daher musste ich manchmal auch zwischen der damaligen Regierung und den Taliban vermitteln.
Später bist Du dann zur GIZ gewechselt, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit.
Ja, nach fünf Jahren bin ich dorthin gewechselt, als Koordinatorin für Projekt-Monitoring und Evaluation.
„Als die Taliban dann in Kabul einmarschierten, herrschte unglaubliches Chaos.“
Salima Aryaanfar
Dann kamen die Taliban nach Kabul.
Das war im August 2021 und eine sehr dramatische Zeit. Die GIZ hatte allen Ortskräften zugesagt, dass sie uns nach Deutschland bringen würden, wenn die Taliban das ganze Land übernehmen würden. Ich gehörte auch dazu, weil ich durch meine Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen zum gefährdeten Personenkreis zählte.
Als die Taliban damals nach Masar-i Scharif kamen, war ich mit meinen drei jüngeren Schwestern gerade in Kabul, wo ich auch gearbeitet habe. Ich hatte furchtbare Sorgen um meine Schwestern, die Jüngste war gerade erst acht Jahre alt.
Als die Taliban dann in Kabul einmarschierten, herrschte unglaubliches Chaos. Ich war gerade in einer Bank, um so viel Bargeld wie möglich abzuheben. Auf einmal riefen alle, wir müssten die Bank verlassen und dass die Taliban da wären. Alle schrien und weinten, und ich hatte unglaubliche Angst. Danach hatte ich viele schlaflose Nächte, vor allem wegen der Sorgen um meine Schwestern.
Wie ist es dann weitergegangen?
In unserer Unterkunft habe ich erstmal fast alle Dokumente vernichtet, die belegen, dass ich mit westlichen Organisationen zusammengearbeitet habe. Auch Fotos von früher. Ich habe mehrmals versucht, die GIZ zu erreichen und zu überzeugen, mich mit meiner Familie nach Deutschland zu bringen, aber ohne Erfolg.
Mein Cousin hat sich dann um meine Schwestern gekümmert und sie zurück nach Masar-i Scharif genommen. Dann bekam ich endlich die Zusage der GIZ, dass ich allein nach Deutschland gehen könne. Der Abschied war sehr schwer für mich. Ich bin Mitte Oktober nach Pakistan geflogen und bin dann Anfang November 2021 nach einem Zwischenstopp in Berlin in München angekommen.
Die Abreise aus Kabul war recht dramatisch, denn um ein Haar wäre ich als allein reisende Frau von den Taliban aufgehalten worden. Ich hätte einen männlichen Verwandten bei mir haben müssen. Ein Paar, dem ich vorher mit einer Übersetzung geholfen hatte, hat mich dann als seine Tochter ausgegeben und mich so gerettet. So konnte ich ausreisen.
Wie war es dann, in Deutschland anzukommen?
Als ich vor vier Jahren meinen Job, meine Familie und Freunde verlassen musste, war das für mich sehr schwierig. Ich überlegte, doch in Afghanistan weiterzuarbeiten, um denjenigen zu helfen, die Angehörige verloren haben oder jeden Tag ihr Leben riskieren, wenn sie Hilfe leisten.
In Berlin wurden wir in Containern untergebracht, es war laut und viele Menschen mussten auf engem Raum zurechtkommen. Später in München wohnten wir dann in einem Heim für Geflüchtete. Dort lebten Menschen aus vielen Nationen – Syrien, Irak, der Türkei. Diese Zeit habe ich als sehr belastend empfunden und war sehr niedergeschlagen. Auch anderen Frauen in der Unterkunft ging es so. Es war Winter, ich konnte kein Deutsch, nur Englisch und wusste erstmal nicht, wie es genau weitergehen soll.
Wie bist Du damit umgegangen?
Erstmal war die emotionale Belastung für mich eine Katastrophe, aber ab 2023 wurde es besser: Ich habe alles darangesetzt, schnell Deutsch zu lernen. Und ich habe mich so gut es ging mit anderen Frauen ausgetauscht.
Ich hatte schon bemerkt, dass einige Frauen in der Unterkunft nicht am Sprachunterricht teilnehmen können, etwa weil sie kleine Kinder haben. Also habe ich angefangen, ihnen weiterzugeben, was ich selbst gerade gelernt hatte. Ich habe dann auch mit der Caritas gesprochen und dann ganz offiziell regelmäßig Deutsch unterrichtet.
So konntest du beruflich in Deutschland Fuß fassen?
Ich habe erstmal ehrenamtlich im Kinderschutz München gearbeitet. Und ich habe Menschen begleitet, die jemanden zum Übersetzen brauchten.
Parallel habe ich mich beworben, auch bei der GIZ und anderen Organisationen. Und eben bei Ärzte der Welt. Ich bin sehr froh, dass ich diese Stelle bekommen habe und ich nun als Teamassistentin/Office Managerin einbringen kann.
Als eine Frau aus Afghanistan bin ich glücklich, dass ich hier in Deutschland bin. Aber mein Herz schlägt weiterhin für die Menschen in Afghanistan, weil seit der Übernahme der Taliban das Leben von Millionen Afghaninnen und Afghanen, vor allem der Frauen auf dem Spiel steht.



