Anna, bevor du im humanitären Bereich angefangen hast, hat dein Leben ganz anders ausgesehen.
Ich bin in einem sehr ländlichen Umfeld in der ostukrainischen Region Luhansk aufgewachsen. Dort hätte ich wahrscheinlich nie etwas von humanitärer Arbeit gehört. Ich habe in Dnipro ein Studium in Finanzwesen absolviert. Im Alter von 25 Jahren war ich bereits Mutter von zwei Kindern und hatte mich gut ich in der Region Luhansk eingelebt.
Dann begann die russische Aggression.
Im Jahr 2014 begann in der Ostukraine die erste Phase des aktuellen Krieges. Das betraf auch die Gegend, in der ich lebte. Wir mussten ins Landesinnere umziehen. Zu dieser Zeit kamen viele Nichtregierungsorganisationen in die Ukraine und es gab viele Arbeitsplätze im humanitären Sektor. Im Jahr 2015 fand ich eine Stelle bei einer humanitären Organisation und seitdem fühle ich mich in diesem Bereich zu Hause.
Zunächst arbeitete ich bei dieser NGO innerhalb der Ukraine. Es lief gut für mich, ich wurde befördert und wurde Projektleiterin. Ich hatte es geschafft, das Projekt stark auszubauen und es zu stabilisieren. Also dachte ich, ich könnte etwas Neues ausprobieren und mich selbst herausfordern.
Du hast angefangen, im Ausland zu arbeiten.
Meinen ersten Auslandseinsatz hatte ich im Jahr 2020. Ich wollte nicht zu weit weg und in einem vertrauten Umfeld arbeiten. Also ging ich in den Kosovo. Ich lebte und arbeitete in Mitrovica. Dort war es natürlich anders als in der Ukraine, dennoch teilen beide Länder das gleiche postsozialistische Erbe.
In meinem Projekt ging es um die Arbeit mit ethnischen Minderheiten und deren Integration. Diese eineinhalb Jahre waren eine sehr interessante Erfahrung in meinem Leben.
Dann änderten sich die Dinge sehr schnell...
Als mein Vertrag Ende 2021 auslief, kehrte ich in die Ukraine zurück. Ich wollte dort bleiben, aber dann brach der Krieg aus. Wir mussten das Land verlassen, damit meine Tochter nicht nochmal den Beschuss und all das Grauen des Krieges erleben musste, was sie bereits 2014 durchgemacht hatte.
Ihr seid dann nach Deutschland gekommen. Wie hast Du es geschafft, hier Fuß zu fassen?
Zusammen mit meiner Mutter und meiner Tochter bin ich direkt nach München gekommen. Ich habe hier Freunde und hatte Hilfe bei der Wohnungssuche. Ich bin so dankbar, dass wir eine so große Unterstützung vom deutschen Staat erhalten.
Zunächst hätte ich nie gedacht, dass wir so lange bleiben würden. Nach einem halben Jahr wurde mir klar, dass der Krieg nicht so schnell vorbei sein würde. Ich beschloss, Deutschunterricht zu nehmen und begann, mich bei verschiedenen Organisationen zu bewerben. Das Stellenangebot von Ärzte der Welt war perfekt, und ich bin froh, dass es geklappt hat.
Jetzt unterstützt Du Deine Heimat, indem Du für eine Organisation arbeitest, die dort tätig ist.
Für mich ist es wichtig, Teil der ukrainischen Reaktion zu sein, auch wenn es nur aus der Ferne ist. Auf diese Weise kann ich anderen Ukrainer*innen helfen. Meine Arbeit gefällt mir auch deswegen sehr, weil ich mich manchmal wie eine interkulturelle Brückenbauerin fühle: Einige der Dinge, die wir im Projekt umsetzen, sind für jeden Menschen in der Ukraine offensichtlich, aber nicht für Leute aus dem Ausland. In solchen Situationen kann ich oft helfen.
Hast Du hier Beispiele?
Ich erkläre den Kolleg*innen, die noch nie in einem solchen Kontext gelebt haben, die Arbeitsweise der ukrainischen Bürokratie. Sie unterscheidet sich von der westlichen und wird mit der Zeit immer besser. Aber es gibt immer noch Fälle, in denen man zum Beispiel ein Dokument mitbringen muss, das bis auf den letzten Buchstaben korrekt ist. Schon beim kleinsten Fehler wird es ungültig. Daran sind viele ausländische Mitarbeitende nicht gewöhnt.
Ein weiteres gutes Beispiel ist unsere Kommunikationskultur. Die Ukrainer sind sehr direkt, sie kommen oft recht geradlinig zur Sache, aber sie wollen dabei nicht unhöflich sein. Das muss man den neuen Kolleg*innen im Ausland oft erst erklären.
Ende Februar war bereits der dritte Jahrestag des russischen Großangriffs. Was fühlst Du, wenn Du daran denkst?
Es ist Angst. Das Ende ist nicht in Sicht. Ich lese ständig ukrainische Nachrichten, und ich habe den Eindruck, dass die Menschen versuchen, optimistisch zu sein. Aber es ist auch klar, dass niemand alle Informationen hat und alle Fakten kennt, die den Ausgang der Situation beeinflussen könnten. Das ist beängstigend. Aber ich versuche, auf das Beste zu hoffen.