Triggerwarnung: Im folgenden Artikel geht es unter anderem um psychische Erkrankungen und Suizidgedanken. Wenn Sie sich in einer seelischen Notsituation befinden, so finden Sie am Ende des Artikels weiterführende Informationen.
Seit Anfang des Jahres verzeichnet ihr einen deutlichen Anstieg der Patientenzahlen. Mit welchen Beschwerden kommen die Menschen zu Euch?
Viele Jahre lang waren bei unseren Patient*innen Krankheiten des Kreislaufsystems, wie etwa Bluthochdruck, die häufigste Diagnosegruppe. Dieses Jahr sind nach aktuellem Stand zum ersten Mal psychische und Verhaltensstörungen die am meisten gestellte Diagnosen. Davon wurden dieses Jahr Anpassungsstörungen, Depressionen und Angststörungen am häufigsten dokumentiert.
Es ist also eine relativ neue Entwicklung bei open.med München?
Wir sehen seit diesem Jahr einen besonders starken Anstieg. Im Zeitraum von Januar bis Mai haben unsere Ärzt*innen und Therapeut*innen bei 72 Patient*innen psychische Störungen und Verhaltensstörungen diagnostiziert. Vor einem Jahr waren es im gleichen Zeitraum 55 Patient*innen.
Dass vermehrt Menschen mit psychischen Problemen zu uns kommen, hat sich langsam über die Monate entwickelt. Wir haben das auch daran gesehen, dass unsere psychiatrische und psychotherapeutische Sprechstunde sehr stark ausgelastet ist. Auch in den allgemeinen Sprechstunden bekommen wir viele Anfragen von Menschen, die neben Medikamenten auch ein Therapieangebot benötigen.
Gab es da auch Notfälle, die eine sofortige Behandlung benötigten?
In den vergangenen zwei Monaten mussten wir mehrmals Patient*innen ins Krankenhaus einweisen, die Gedanken geäußert haben, möglicherweise ihr Leben zu beenden und weiter daran festgehalten haben. Wir sind sehr froh, dass diese Patient*innen genug Vertrauen zu uns hatten, um uns in dieser schwierigen Situation um Hilfe zu bitten. Anschließend haben wir alle nötigen Schritte in die Wege geleitet, damit sie als Notfälle in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen wurden.
Wie geht ihr mit solchen Situationen um?
Wir sprechen im Team darüber. Sowohl für unsere Ehrenamtlichen als auch für uns in den Sprechstunden ist das natürlich eine sehr belastende Situation.
Jemanden akut in eine Klinik einzuweisen, ist nur eine kurzfristige Lösung. In einer psychiatrischen Klinik werden die Patient*innen stabilisiert und dann wieder entlassen, weil eine Weiterbehandlung eigentlich ambulant erfolgen soll, also außerhalb des Krankenhauses. Aufgrund der Lebensumstände unserer Klient*innen ist es für sie manchmal sehr schwierig, eine ambulante Versorgung zu bekommen und diese dann regelmäßig aufzusuchen.
Aber es gibt auch Lichtblicke: Eine Patientin konnte vor Kurzem zum Beispiel in der Klinik gut medikamentös eingestellt werden. Es geht ihr jetzt viel besser. Wir sind weiterhin mit ihr in Kontakt und betreuen sie intensiv.
Fällt es den Patient*innen schwer, über psychische Beschwerden zu sprechen?
Wenn jemand das erste Mal zu uns kommt, fragen wir bereits kurz am Empfangstresen, warum die Person bei uns ist. Manche äußern bereits dort, dass sie auch psychische Hilfe brauchen. Außerdem gehört es zu unseren ausführlichen Vorgesprächen, dass wir neben der körperlichen auch die psychische Gesundheit ansprechen, um zu erfahren, was jemand braucht.
Wenn jemand in einer schlechten psychischen Verfassung ist, ist es für uns sehr wichtig zu wissen, worum es sich genau handelt. Ist es eine normale, nachvollziehbare Reaktion auf eine belastende Situation? Oder geht es darüber hinaus und die Person benötigt professionelle Hilfe?
Unsere Patient*innen können das bei unseren Allgemeinmediziner*innen ansprechen, und bekommen dann einen Termin in unserer speziellen Sprechstunde mit einer Psychiaterin oder Psychologin.
Die Menschen sollen uns als Ansprechpersonen und als Einrichtung wahrnehmen, an die sich wenden können – eben nicht nur bei körperlichen, sondern auch bei psychischen Problemen.

Mit welchen Hürden seid ihr dabei konfrontiert?
Eine große Herausforderung sind fehlende Sprachkenntnisse. Wir haben für die meisten Sprachen zwar Telefondolmetscher*innen. Aber es ist natürlich vor allem bei so einem sensiblen Thema nicht optimal, auf Sprachmittlung per Telefon oder Video angewiesen zu sein. So besteht auch immer die Gefahr, dass etwas Wichtiges untergeht. Auch ist dann der Kontakt zur Patient*in, zum Patienten nicht so intensiv, dabei ist dieser hier besonders wichtig.
Welche Konsequenzen zieht Ihr für Eure Arbeit aus den steigenden Zahlen von psychischen Beschwerden?
Wir haben das innerhalb unseres Teams aus haupt- und ehrenamtlichen Kolleg*innen intensiv besprochen und uns Lösungen und Herangehensweisen überlegt. Wir möchten beispielsweise Fachärzt*innen als Ehrenamtliche gewinnen, die wir schnell und unkompliziert ansprechen können.
Und wir vernetzen uns bereits mit anderen Stellen in München, etwa der Psychiatrischen Praxis für wohnungslose Menschen. Dort gibt es ebenfalls Fachleute für Psychiatrie und offene Sprechstunden.
Wenn du einen Appell an politische Akteure richten könntest, was wäre das?
Die psychiatrische und psychologische Versorgung reicht generell in Deutschland nicht aus. Das gilt nicht nur für unsere Patient*innen, sondern für alle, die in diesem Bereich Hilfe brauchen, egal ob ambulant oder stationär.
Das Angebot muss also dringend viel stärker ausgebaut werden und es muss auch für Menschen gelten, die in Deutschland nicht leistungsberechtigt sind. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht und das gilt für alle. Und neben dem medizinischen und menschlichen Aspekt ist es volkswirtschaftlich viel günstiger, Erkrankte sofort zu behandeln, als zu warten, bis diese als Notfall in eine Klinik eingewiesen werden.
Wie Sie helfen können
Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit in Deutschland mit einer ► Spende! Herzlichen Dank.
Wenn Sie sich in einer psychischen oder seelischen Notsituation befinden, holen Sie sich Hilfe. Sie sind nicht allein!
Kostenfreie und anonyme Telefonseelsorge:
0800 1110111 / 0800 1110222 oder 116 123
Unter telefonseelsorge.de können Sie auch mit jemanden chatten oder per E-Mail in Kontakt treten.
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