Die weltweite Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts macht auch vor Deutschland nicht halt. Im Wahlkampf wurden Migrationspolitik und Kürzungen der Sozialleistungen zu zentralen Themen. Zugespitzte Debatten drehten sich mehr um Abschottung und das Schüren von Ängsten als um Solidarität und die Bedürfnisse der Bevölkerung. Dieser Wandel ist auch im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD sichtbar.
Trotz einiger begrüßenswerter Aspekte im Koalitionsvertrag überwiegt die Sorge, dass er vor allem ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen kaum berücksichtigt. Die restriktive Migrationspolitik und die Kürzungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe werden gravierende Folgen für die Menschen haben, die Ärzte der Welt in Deutschland und weltweit unterstützt. Wir haben die Punkte, die zentral für unsere Arbeit sind, und ihre Auswirkungen zusammengefasst:
Wir begrüßen die Pläne der neuen Regierung, das deutsche Gesundheitswesen auf mehreren Ebenen zu verbessern und bedarfsgerecht, bezahlbar und inklusiv zu gestalten. Patient*innen sollen von stabilen Versicherungsbeiträgen und kürzeren Wartezeiten profitieren, während bessere Arbeitsbedingungen für Fachkräfte im Gesundheitswesen versprochen werden. Unklar bleibt allerdings, wie solche tiefgreifenden Veränderungen nachhaltig finanziert und umgesetzt werden.
Wir kritisieren, dass bestehende – und bekannte – Missstände und Lücken in der Versorgung unerwähnt bleiben, insbesondere von benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie geflüchtete, wohnungslose oder unversicherte Menschen. Im Gegensatz zum vorherigen Koalitionsvertrag enthält der neue kaum Verbesserungsvorschläge für unsere Patient*innen. Lösungsansätze der Vorgängerregierung, beispielsweise die Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf Sprachmittlung, greifen die Koalitionsparteien nicht auf. Immerhin der Nationale Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungslosigkeit soll in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.
Wir fordern daher weiterhin, dass alle Menschen in Deutschland niedrigschwellig und ohne Diskriminierung gesundheitliche Versorgung in Anspruch nehmen können. Denn Gesundheit ist ein Menschenrecht.
Wir betrachten mit Sorge die restriktive Neuausrichtung in der Migrations- und Asylpolitik. Durch die geplanten Maßnahmen und ihre Folgen ist absehbar, dass sich für Geflüchtete und Migrant*innen die Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, die allgemeinen Lebensverhältnisse, sowie der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung verschlechtern werden. Rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung drohen sich zu verschärfen.
Abschottung, Abschiebung und Leistungskürzungen stehen im Zentrum der Vorhaben der neuen Regierung. Dabei ignoriert sie das menschen- und verfassungsrechtlich vorgeschriebene Mindestmaß an Versorgung und Schutz.
Für ukrainische Geflüchtete bedeutet das Verschlechterungen in der Gesundheitsversorgung. Laut Koalitionsvertrag sollen diese nicht länger Zugang zum regulären Sozialleistungs- und Krankenversicherungssystem haben, sondern wieder unter das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) fallen. Wir verurteilen entschieden diesen rückwärtigen Schritt, da wir in unseren Projekten sehen, dass die Versorgung nach AsylbLG weder ausreichend noch bedarfsgerecht ist. Es war eine richtige Maßnahme, geflüchtete Ukrainer*innen in die regulären Systeme zu integrieren. Wir fordern, das diskriminierende Sondersystem AsylbLG für alle Asylsuchenden abzuschaffen. Das würde auch weniger Bürokratie bedeuten, ein Vorhaben, dass sich die neue Koalition auf die Fahne geschrieben hat.
Wir begrüßen, dass die neue Regierung den Gewaltschutz ausbauen möchte und einen Nationalen Aktionsplan vorsieht. Insbesondere geflüchtete Frauen will sie durch „Erleichterungen bei Residenzpflicht und Wohnsitzauflage“ bei häuslicher Gewalt besser schützen.
Wir werden kritisch beobachten, ob die Koalition benachteiligte und ausgegrenzte Personengruppen konsequent mitdenkt und ob die Maßnahmen zum Gewaltschutz vor dem Hintergrund der geplanten restriktiven Migrationspolitik tatsächlich geflüchtete Personen besser schützen. Denn parallel plant die Regierung Menschen, die einen Schutzstatus in einem anderen EU-Land haben, also unter die sogenannte Dublin-Verordnung fallen, vollständig von Leistungen auszuschließen. Hierdurch droht auch gewaltbetroffenen Personen mit besonderem Schutzbedarf, die wir in unter anderem mit unserem reach.out Projekt unterstützen, dass sie jegliche gesundheitliche und psychosoziale Versorgung verlieren und obdachlos werden. Diese verfassungs- und europarechtswidrigen Maßnahmen verurteilen wir auf das Schärfste. Angesichts zunehmender anti-feministischer Tendenzen braucht es ein klares Bekenntnis zum menschenrechtlichen Schutz aller Geschlechter.
Der Koalitionsvertrag enthält einen Abschnitt zu Schwangerschaftsabbrüchen. Wir beobachten mit Sorge, dass die körperliche Selbstbestimmung von schwangeren Personen dem Schutz des „ungeborenen Lebens“ offenbar untergeordnet wird. Eine Neuregelung des Paragraphen 218 wird nicht erwähnt, obwohl laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Familienministeriums 80 Prozent der Bevölkerung eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen befürworten. Wir begrüßen, dass die Versorgungslage bei Abtreibungen verbessert werden soll, indem die Kostenübernahme durch die Krankenkassen erweitert wird und Frauen in Konfliktsituationen einen besseren Zugang erhalten. Wir fordern, dass auch ungewollt Schwangere ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz einen sicheren Zugang und eine Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie allen notwendigen Untersuchungen bekommen.
Die neue Regierung möchte prüfen, ob ärztlich verordnete Verhütungsmittel für Frauen bis zum 24. Lebensjahr kostenlos werden. Wir begrüßen den Vorschlag der Regierung für einen einfacheren, günstigeren Zugang zu Verhütungsmitteln. Allerdings kritisieren wir die Beschränkungen auf versicherte Frauen unter 24 Jahren und lediglich ärztlich verordnete Verhütungsmittel. Wir fordern eine bedarfsgerechte Kostenübernahme für alle in Deutschland lebenden Personen, unabhängig von Versichertenstatus oder Geschlecht.
Wir begrüßen, dass die neue Regierung sich zu humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bekennt und Nichtregierungsorganisationen fördern möchte. Gleichzeitig plant sie jedoch ihre finanzielle Unterstützung weiter zu reduzieren und wendet sich von dem international vereinbarten Ziel ab, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungsleistungen aufzuwenden. Wir betrachten die Auswirkungen für unsere Patient*innen und Teams im Ausland mit großer Sorge. Bereits im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung Mittel gekürzt, was zu einer hohen Planungsunsicherheit mit direkten Folgen für Projekte und Menschen in humanitären Krisengebieten geführt hat. Die weltweiten Folgen sind katastrophal, besonders vor dem Hintergrund, dass neben Deutschland auch andere langjährige Geberländer ihre Finanzierung erheblich einschränken, allen voran die USA. Ein ernsthaftes Bekenntnis zur humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sollte konkrete Maßnahmen und Finanzmittel enthalten.
Ohne weitere Finanzierung werden allein in Projekten von Ärzte der Welt voraussichtlich 62 Gesundheitseinrichtungen in 6 Ländern schließen müssen oder können nur eingeschränkt betrieben werden. Dadurch würden insgesamt ca. 2,9 Millionen Menschen den Zugang zu medizinischer Grundversorgung verlieren. Wir appellieren eindringlich an die kommende Bundesregierung, eine Fortsetzung der Finanzierung sicherzustellen, um die schlimmsten Auswirkungen abzuwenden.
Wir kritisieren, dass Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe primär an deutschen Interessen ausgerichtet werden sollen und so ihrem Mandat nicht gerecht werden. Im Koalitionsvertrag wird der „Zugang zu Rohstoffen, Fluchtursachenbekämpfung sowie die Zusammenarbeit im Energiesektor“ vor dem Engagement gegen „Armut, Hunger und Ungleichheit“ genannt. Diese Auffassung von Entwicklungszusammenarbeit, deren eigentliches Ziel eine gerechte und sichere Welt ist, betrachten wir mit großer Sorge. Mit Skepsis verfolgen wir das Ziel einer „kohärenten” Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Während wir Kohärenz prinzipiell begrüßen, fordern wir, dass entwicklungspolitische Ziele und humanitäre Prinzipien nicht anderen Politikfeldern untergeordnet werden. Wir lehnen eine Instrumentalisierung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe für militärische oder migrationspolitische Ziele entschieden ab.
Klimapolitik und humanitäres Recht
Eine gerechte, gesunde Welt benötigt eine ehrgeizige Klimapolitik. Um die Gesundheit der Menschen zu schützen, müssen Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel beinhalten. Klimapolitik ist ein existenzielles Thema, dessen Relevanz jedoch von den Koalitionsparteien bereits im Wahlkampf vernachlässigt wurde. Der Koalitionsvertrag enthält keine konkreten Aussagen zur Finanzierung von Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen. Wir befürchten, dass ohne ausreichende öffentliche Gelder besonders der Aspekt der Klimagerechtigkeit leidet, denn ohne eine faire Verteilung der Mittel werden weiterhin die Menschen am meisten leiden, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben.
Wir bedauern, dass gerade in der aktuellen Zeit ein explizites Bekenntnis zur Stärkung des humanitären Völkerrechts und humanitärer Prinzipien gänzlich im Koalitionsvertrag fehlt. Deutschland ist in der Vergangenheit als Verfechterin des Internationalen Rechts aufgetreten. Der Schutz von Menschenrechten und internationalen Prinzipien, insbesondere in Kriegs- und Krisengebieten, sollte insbesondere in diesen konfliktreichen Zeiten ein zentrales Anliegen der internationalen Gemeinschaft sein. Wir vermissen konkrete Maßnahmen zur Umsetzung und Finanzierung von Menschenrechtskonventionen und weiteren internationalen Instrumenten. Wir fordern, dass die deutsche Regierung sich ihrer Verantwortung bewusst wird, Haltung zeigt und ausreichende Mittel bereitstellt.
Wir begrüßen, dass das Thema globale Gesundheit mit einem eigenen Abschnitt im Koalitionsvertrag verankert ist. Wir betrachten allerdings mit Sorge, dass Gesundheit nicht als Menschenrecht verstanden wird, sondern vielmehr als Mittel zum Zweck für nationale Interessen und vermeintliche Sicherheit. Wir fordern ein umfassendes, menschenrechtsbasiertes Verständnis von globaler Gesundheit, eine angemessene Finanzierung und entsprechende Maßnahmen. Nur so kann die Politik dazu beitragen, die Gesundheit von Menschen weltweit – auch in Deutschland – zu verbessern.