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Beratung bei open.med Berlin-Lichtenberg. Foto: Max Avdeev

„Ohne Euch weiß ich nicht mehr weiter“

„Ohne Euch weiß ich nicht mehr weiter“

 

Immer wieder wird deutlich, wie wichtig auch die ganz akute Hilfe in unseren Praxen ist. Manchmal ist sie sogar lebenswichtig, wie ein aktueller Fall in Berlin-Lichtenberg erneut gezeigt hat.

Triggerwarnung: Thema Suizid. Wenn Sie darüber nachdenken, Ihr Leben zu beenden oder mit jemandem reden möchten, finden Sie hier Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.


Joseph Moussa (Name geändert) sitzt am Tisch und hat seine Kappe tief nach unten gezogen. Mit den Händen fährt er sich immer wieder über das Gesicht. „Ich bin seit vier Monaten in Deutschland. Seit drei Monaten geht es mir sehr schlecht. Ich habe keinen Appetit mehr und kann nicht mehr schlafen“, beginnt er auf Französisch zu erzählen. Der ehrenamtliche Facharzt für Allgemeinmedizin Richard Dargie hört auf die Übersetzung der Videodolmetscherin, die dem Gespräch über einen Bildschirm mit Kamera zugeschaltet ist. Ebenfalls anwesend ist Eva Hesse. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin, studiert Gesundheitswissenschaften und unterstützt ehrenamtlich die Sprechstunden von open.med Berlin-Lichtenberg. Gerade dokumentiert sie die wichtigsten Punkte in die anonyme Krankenakte.

Der Arzt Richard Dargie schaut den Patienten mit offenem Blick an und gibt ihm Zeit. Er hat Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten und ein Bewusstsein dafür, wie schwierig es sein muss, sich völlig fremden Menschen in einer belastenden Situation zu öffnen. Er fragt erst einmal die körperlichen Symptome ab. Ob er eine chronische Krankheit habe? Oder schon einmal operiert worden sei, auch in der Kindheit?  Joseph Moussa verneint, sagt allerdings, dass er seit zwei Wochen unter starken Verdauungsstörungen leide. Und er bekomme Hautauschläge. Das läge an dem schlechten Essen, einem Mangel an Obst und Gemüse, in der Unterkunft, in der er derzeit leben müsse. Dargie untersucht den Patienten auf der Liege und da dieser einen juckenden Hautpilz hat, gibt er ihm eine Salbe. Auch gegen die starken Durchfälle und die Übelkeit bekommt Joseph Moussa ein Mittel.

Auf die Frage, ob er geflohen sei, erzählt Moussa zögernd. „Es war sehr traumatisierend. Es war schlimm. Das ist der Grund, warum ich hier zu euch gekommen bin. Ich brauche einen Ausweg. Ich habe zu viel gesehen und erlebt. Ich habe keine Kraft mehr zu leben..“ Dargie nickt. „Gibt es Probleme mit Substanzen?“, fragt er. „Ja“, bestätigt Joseph. „Ich trinke Bier, um schlafen zu können.“ Der open.med-Arzt fragt nach Entzugserscheinungen, auch die kennt der Patient, betont aber, dass er sonst keine anderen Substanzen oder Drogen zu sich nehme. Ob er kreisende Gedanken habe? „Ja, ich sehe Bilder“, beschreibt Joseph seine Situation. „Die Bilder kommen vor allem in der Nacht. Es sind schlimme Alpträume. Ich bin zu Euch gekommen, um die Gedanken in meinem Kopf loszuwerden.“

Joseph hat seine Heimat in Zentralafrika verlassen, nachdem sein Vater mit 54 Jahren gestorben war. Seine Mutter und seine drei Schwestern sind dort geblieben. Vergangene Woche hat er erfahren, dass seine Mutter mit nur 50 Jahren verstorben ist. „Meine Mutter war alles für mich. Für sie bin ich nach Deutschland gekommen, denn sie war krank. Jetzt geht es mir sehr schlecht.“ Richard Dargie drückt sein Mitgefühl aus und fragt, ob es denn Menschen gebe, die Joseph beistehen und an die er sich wenden könne. Immerhin ist die Schwester manchmal per Telefon erreichbar, das mache es etwas leichter. Joseph Moussas düstere Gedanken ließen sich durch die Telefonate allerdings nicht vertreiben. „Ich fühle mich schuldig, weil ich meine Mutter im Stich gelassen habe.“

Das open.med-Team macht sich große Sorgen um den Patienten. Weil er niemanden in Berlin kennt, müsste er für eine kontinuierliche Betreuung zwischen seiner etwa 100 Kilometer entfernten Unterkunft und der Hauptstadt pendeln. Ob es in seiner Gemeinschaftsunterkunft Ärzt*innen gebe, die ihn unterstützen können, weiß Joseph Moussa nicht. Zudem hat er große Angst, denn er soll abgeschoben werden. Er ist deshalb mit einer Rechtsanwältin in Kontakt. Nachden Fluchtgründen fragt das Team nicht. Ärzte der Welt kümmert sich um Menschen ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz, die medizinische oder psychologische Hilfe brauchen – egal, aus welchem Grund sie in Deutschland sind.

Nachdem der Arzt sich mithilfe der Dolmetscherin ein Bild von Joseph Moussas Situation machen konnte, steht für ihn fest, dass dieser sofort psychiatrische Hilfe braucht und empfiehlt eine Psychiatrie in der Nähe der Unterkunft. Ebenso sagt er, dass sich Joseph an den Krisennotdienst wenden könne, der sein Büro direkt neben der open.med-Praxis hat. Es gäbe auch die Möglichkeit, ihn in die Psychiatrie in Berlin zu vermitteln.

Joseph beteuert, er habe Angst, dass er nicht bis morgen warten könne. Er weiß nicht, ob er sich etwas antun werde. Nach diesen Äußerungen ist klar, dass das open.med-Team auf keinen Fall riskieren wird, Joseph allein zu lassen. Eine Mitarbeiterin ruft einen Rettungswagen, der ihn wegen akuter Suizidalität in das nächstgelegene Krankenhaus mit psychiatrischer Abteilung bringen wird. Joseph stimmt der Einweisung in die Psychiatrie zu. Die Leiterin der open.med-Praxis Susanne Eikenberg kontaktiert zudem Josephs Rechtsanwältin, ebenfalls mit dessen Zustimmung, und berichtet ihr von der Entscheidung und in welches Krankenhaus er stationär aufgenommen werden wird. Erst, als er zusammen mit dem Rettungswagen auf dem Weg dorthin ist, atmet das Team durch.

 

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