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Ursula Schneider, ehrenamtliche Psychologin und Psychotherapeutin bei Ärzte der Welt. Foto: Ärzte der Welt

„Unsere Patient*innen sind von regulären Angeboten abgeschnitten“

„Unsere Patient*innen sind von regulären Angeboten abgeschnitten“

 

Die Psychologin und Psychotherapeutin Ursula Schneider betreut seit fünf Jahren ehrenamtlich Menschen mit psychischen Problemen bei open.med München. Im Interview spricht sie über die Bedeutung und die Bedarfe in der psychologischen Gesundheitsversorgung – und über die Hürden, mit denen unsere Patient*innen konfrontiert werden.

Liebe Ursula, wie viele Patient*innen werden in der Anlaufstelle psychotherapeutisch betreut?

Ich bin einmal in der Woche in der Anlaufstelle open.med und habe dann drei bis maximal fünf Beratungsgespräche. Patient*innen werden häufig zusätzlich von unserer Psychiaterin von open.med behandelt.

Kommen die Patient*innen selbst mit dem Wunsch nach einer psychologischen Versorgung in die Anlaufstelle?

Meine Erfahrung ist, dass fast alle Patient*innen zunächst wegen akuter oder chronischer körperlicher Beschwerden die ärztliche Sprechstunde aufsuchen. Manchmal vermuten die behandelnden Ärzte hinter den Kopf- und Rückenschmerzen auch zugrunde liegende psychische Probleme. Vor allem aber wird in der Sozialberatung deutlich, wenn jemand seelisch unter seinen prekären Lebensumständen leidet.

Typisch ist, dass die Patient*innen, nachdem sie ihre Beschwerden geschildert haben, zuerst ein Medikament erwarten. Es ist dann wichtig, zu erklären, was Psychotherapie ist, und dass es hier nicht um ein „entweder Medikamente oder Psychotherapie“ in der Behandlung geht. Es kann sehr gut sein, dass neben der psychotherapeutischen Behandlung gleichzeitig auch Medikamente nötig sind.

Erfahrungsgemäß wirken sich schon aktives Zuhören, Wertschätzung und die Begegnung ohne Vorurteile bei den Patient*innen stressreduzierend aus und schaffen die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.  Die Vorerfahrung bei der meisten Patient*innen ist ja, dass sie in ihrem Alltag meist Ablehnung, Ausgrenzung und mangelnde Wertschätzung erleben. Für Menschen, die in eine soziale Schieflage geraten sind, ist diese Tatsache meist sehr schambesetzt.

Wie groß ist der Bedarf an Psychotherapie?

Es besteht zweifellos ein großer Bedarf an Psychotherapie und psychosozialer Beratung, ebenso an Coaching-Sitzungen, in denen man ganz gezielt an einem Problem arbeitet. Manchmal handelt es sich dabei um Kurzzeit-Beratungen, im Umfang von etwa zwei bis drei Monaten, manchmal auch um den Zeitraum von einem Jahr. 

In der Regelversorgung gibt es keinen Zugang für Menschen ohne Krankenversicherung. In der ambulanten Psychotherapie werden die Kosten für Sprachmittler nicht übernommen. Niedergelassene Psychotherapeuten verweisen auf mehrmonatige Wartezeiten.

Es gibt ein großes Problem bei Patient*innen, die eine längerfristige Therapie benötigen. Wenn diese dann, beispielsweise durch unsere Vermittlung, einen Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung haben und damit krankenversichert sind, finden sie kurzfristig keine*n Psychotherapeut*in. Die Wartezeiten sind aktuell sehr lang, oft sechs Monate bis ein Jahr. Ich habe aktuell wieder zwei Patient*innen, die wir dann bei open.med weiter betreuen, weil wir niemanden finden, der oder die das regulär übernehmen könnte.

Wie würdest Du die Situation der open.med-Patient*innen beschreiben?

Bei den Patient*innen geht es vor allem um drei Gruppen. Menschen leben in sehr schwierigen sozialen Lebensverhältnissen: Sie sind obdachlos, haben keine private Wohnsphäre, keine finanzielle Unterstützung und kein soziales Stützsystem. Wenn so ein Zustand chronisch wird, dann halten Menschen das irgendwann nicht mehr aus und brechen seelisch zusammen.

Dann sehen wir die Gruppe von Patient*innen mit Trauma-Erfahrungen.  Diese Patient*innen sind psychisch besonders vulnerabel, wenn sie prekären Lebensumständen ausgesetzt sind und reagieren erneut mit Angstsymptomen und Depression.

Und wir haben eine Gruppe von Patient*innen, die bereits früher in ihrem Heimatland, psychisch erkrankt waren und aufgrund der erhöhter Vulnerabilität durch die erschwerten Lebensbedingungen, erneut eine Episode von Depression, Angst oder eine Psychose erleben.

Kann allen Patient*innen geholfen werden?

Es gibt auch Patient*innen, die eine langfristige therapeutische Lösung benötigen. Bei diesen chronisch schwer beeinträchtigten Patienten geht es darum, den Status Quo zu halten und einer weiteren Verschlechterung vorzubeugen. Für diese Patient*innen wäre eine dauerhafte Unterstützung und Förderung in einer psychosozialen Einrichtung, z.B. therapeutische Wohngruppe oder Tagesstätte sinnvoll, wäre da nicht das Problem der Kostenübernahme!  Von all diesen Maßnahmen sind Patient*innen, die keine Krankenversicherung haben, weiter ausgegrenzt.

Wie viele Jahre bist Du schon bei open.med und was hat sich seitdem verändert?

Ich bin jetzt seit fünf Jahren dabei. Wenn ich an die letzten Jahre denke, fällt mir natürlich vor allem die Corona-Situation ein. Therapien fielen teilweise aus oder konnten nur niederschwellig angeboten werden, da sich Patient*innen in Quarantäne befanden. Telefonvisiten ersetzten notdürftig persönliche Treffen. Online-Visiten mit Video waren nicht möglich, weil den Patient*innen die technische Ausrüstung dazu fehlte. Die Nutzung von Messenger Diensten ging wegen Datenschutz-Bedenken nicht. Viele Patient*innen waren in dieser Zeit einer zusätzlichen Isolation ausgesetzt. Das hat ihre psychische Befindlichkeit zum Teil wieder verschlechtert.

Nun ruht diese wichtige Arbeit auf den Schultern von Ehrenamtlichen, die sich einbringen und hier viel leisten. Wie stehst Du dazu?

Ich würde mir erstmal für alle Menschen wünschen, dass der Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung verbessert wird. Allerdings sind die Patient*innen, die zu open.med kommen, in dieser Hinsicht sogar im Vorteil. Wenn Menschen zu einem Hausarzt gehen und eine Psychotherapie empfohlen bekommen, dann müssen sie viele Monate auf einen Therapieplatz warten. Bei open.med ist die Zuweisung wesentlich einfacher.

Verlässt sich Staat darauf, dass es immer Ehrenamtliche geben wird, die Projekte übernehmen?

Das gilt für alle Wohlfahrtseinrichtungen. Würden die ehrenamtlichen Einsätze wegbrechen, würden die staatlichen Dienstleistungen bei weitem nicht ausreichen.

Ich wünsche mir, dass den gesellschaftlichen Randgruppen mehr Beachtung zukommt. Deshalb finde ich es sehr wichtig, politische Entscheidungsträger davon zu überzeugen, den „barrierefreien“ Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verbessern.

 

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