„Wie schaffst du es, weiterzumachen? Wie kannst du anderen helfen, wenn du selbst verletzt bist? Bist du schon einmal zusammengebrochen? Kannst du überhaupt weitermachen?“ Das sind Fragen, die ich immer wieder höre, von Journalist*innen, Freund*innen, Kolleg*innen im Ausland und sogar Fremden im Internet. Und ehrlich gesagt, stelle ich sie mir selbst auch.
Seit über 21 Monaten lebe ich inmitten des Krieges in Gaza. Ich bin Fachkraft für psychische Gesundheit – aber hier ist dieser Titel bei Weitem nicht genug: Ich bin Therapeutin, ja. Aber ich bin auch eine Frau, die mit Verlusten kämpft. Ich bin eine Mutter, die ihre Kinder schützen will. Ich bin eine Tochter, die um ihre Lieben trauert. Ich bin eine müde Psychologin, eine zerbrochene Seele, die die Last anderer trägt. Ich bin Zeugin unaussprechlicher Verbrechen. Ich bin Helferin für Verwundete, während ich selbst Wunden trage. Ich bin all diese Rollen zugleich, untrennbar miteinander verbunden. Ich helfe, ich zerbreche, ich halte kurz inne und breche zusammen.
Die Welt sieht zu
Heute, während ich dies schreibe, erlebe ich einige der dunkelsten Kriegstage. Ich schäme mich nicht zu sagen: Ich habe Hunger, und mein Hunger ist kein Zufall. Er ist die Folge der systematischen Blockade Israels, menschenfeindlicher Politik und absichtlicher Isolation.
Nein, ich schäme mich nicht für mich selbst. Ich schäme mich für eine Welt, die von Menschlichkeit und Menschenrechten predigt, während Gaza bombardiert, ausgehungert und zum Schweigen gebracht wird.
Eine Kraft, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe
Seit wir in den Flüchtlingscamps arbeiten, haben wir nie unter normalen Bedingungen praktiziert. Krankenhäuser wurden bombardiert, medizinische Teams getötet oder verhaftet, Kliniken evakuiert, Straßen unpassierbar gemacht. Und dennoch machen wir weiter – nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern aus einer tieferen moralischen Verpflichtung heraus. Jeden Morgen verabschieden wir uns von unseren Kindern in der Angst, es könnte das letzte Mal sein. Dann beginnen wir die psychologischen Sitzungen, in Zelten, in Ecken von Unterkünften oder zwischen Ruinen.
Mein Bild von mir selbst hat sich verändert: Ich habe gelernt, meine verstorbenen Liebsten im Herzen zu begraben und dennoch für die Lebenden da zu sein. Ich habe gelernt, 21 Monate lang Angst zu ertragen, Tag für Tag. Und ich habe gelernt, zu beten: Für meine Freund*innen, die immer noch unter den Trümmern liegen. Ich habe auch gelernt, was Durchhaltevermögen bedeutet.
Ich habe gelernt, in einem Ort zu überleben, an dem kein Leben mehr möglich scheint. Wie man Wasser sammelt. Wie man tagelang ohne das Nötigste auskommt. Wie man Kindern beibringt, Hunger zu ertragen. Ich habe eine Kraft in mir entdeckt, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Ist es, weil es keine andere Option gab? Vielleicht. Aber sicher auch, weil mein Glaube an Gott und an die Würde meiner Mitmenschen eine Kraft ist, die mich durch das Unvorstellbare trägt.
Füreinander da sein, auch wenn die Worte fehlen
Wir therapieren nicht in sicheren, ruhigen Büros. Wir versuchen, Hoffnung in überfüllten Zelten und zerstörten Schulen zu geben. Kinder sprechen über Raketen wie andere über das Frühstück – so beiläufig, so routiniert. Und doch wird von uns psychischen Fachkräften verlangt, neutral zu bleiben. Aber was bedeutet Neutralität angesichts von Gräueltaten? Soll ich den Kindern etwa auf die Schulter klopfen und sagen: „Es wird alles gut“? Obwohl ich genau weiß, dass sie den Geruch von Blut nie vergessen werden? Wie soll ich mit ihnen über Sicherheit reden, wenn ich hinter jedem Geräusch, hinter jedem Schatten eine Gefahr wittere?
Die Wahrheit ist: Manchmal sprechen wir gar nicht. Manchmal ist schweigen alles, was wir tun können. Aber allein die Anwesenheit eines anderen Menschen kann genügen. Da zu sein, mit jemandem in seiner Trauer zu sitzen, ohne sie heilen zu müssen – das kann auch helfen. Das Lächeln eines Kindes nach Tagen voller Tränen. Eine Frau, die nach einem Panikanfall endlich Ruhe findet.Der Dank eines älteren Menschen, dem wirklich zugehört wurde – das sind die Momente, die uns weitermachen lassen.
Gemeinsam durch den Schmerz
Was mein Herz erwärmt, ist, unser Zusammenhalt. Wir sind nicht allein in diesem Schmerz. Um mich herum sind Kolleg*innen, deren Stärke mich jeden Tag bekräftigt. Jede*r trägt eine Geschichte unvorstellbaren Verlusts, und dennoch kommt jede*r, um zu arbeiten.
Denn wir alle – wirklich alle – haben alles verloren: unsere Häuser, Straßen, Erinnerungen, unsere Liebsten. Und dennoch kommen wir, müde, trauernd, hungrig, getrieben von etwas Größerem als Trauer: einer stillen, tiefen Liebe für unsere Menschen.
Was mir hilft, ist, wie wir einander halten. Wie wir uns im Chaos gegenseitig stützen. Wie wir gemeinsam trauern, wenn jemand von uns geht. Wie wir unsere Erschöpfung, unseren Schmerz, unsere Hilflosigkeit teilen und trotzdem schaffen, einander Hoffnung zu geben. „Das wird enden“, sagen wir. „Gott wird uns zurückgeben, was genommen wurde.“ Wir denken an die Hoffnungslosesten unter uns: „Eines Tages werden wir zurückblicken und sagen, wir haben überlebt.“ Wir haben einander.
Der Wille zu Überleben
Wie wir immer weitermachen? Die bessere Frage wäre: Wie könnten wir aufhören? Aufhören hieße, der Dunkelheit den Sieg zu überlassen. Wir sind erschöpft, aber nicht zerbrochen. Noch nicht. Denn Gaza ist nicht nur ein Land des Schmerzes und der Trümmer, es ist ein Land der Menschlichkeit. Wir sind noch hier. Und gemeinsam werden wir leben.
Wie der Dichter Elia Abu Madi sagt: „Verzweiflung, glaube ich, ist Verrat – an denen, die mit Hoffnung lebten oder träumend starben.“
- Nour Z. Jarada, Leiterin mentale Gesundheit in Gaza bei Ärzte der Welt
Die israelische Regierung hungert die Bevölkerung im Gazastreifen systematisch aus. Auch humanitäre Helfer*innen kämpfen ums Überleben. Ärzte der Welt fordert deshalb einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand. Dazu gehört die Öffnung aller Grenzübergänge für Hilfsgüter sowie der ungehinderte Zugang zu diesen. Außerdem fordern wir die sofortige Rückkehr zu UN-geführten Verteilungen humanitärer Hilfe.