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Ein Kind in dem FlüchlingslagerKara Tepe 2 auf der Insel Lesbos. Foto: Chris Schmid

Bericht einer Ärztin aus Lesbos

Bericht einer Ärztin aus Lesbos

 

In einem Tagebuch hat die HNO-Ärztin Dr. med. Laura-Marie Gaertner ihre Eindrücke aus dem Kara-Tepe-Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos festgehalten. Sie hat dort zweieinhalb Wochen die Kolleg*innen der griechischen Sektion von Ärzte der Welt unterstützt. Lesen Sie hier einige Auszüge.

17.05.2021

Das Flüchtlingslager Kara Tepe 2 wurde auf steinernem Boden errichtet und zwei seiner Seiten liegen direkt am Meer. Es wurde schnell und notdürftig aufgebaut, die Betonmauern, die es umgeben, und die Gespräche der Bewohner*innen lassen vermuten, dass es sich jedoch keinesfalls um eine Übergangslösung handelt. Das Camp ist in verschiedene Areale aufgeteilt, die Zelte sind zudem nummeriert. Familien bewohnen je ein Zelt, Personen die allein hier sind, bewohnen zu acht eine Zelle eines großen Zeltes, welches wiederum in zwölf Zellen aufgeteilt ist. Innen ist es heiß, der Geruch verschlägt einem fast den Atem. Im zentralen Bereich des Camps stehen wenige stabilere Container, in denen einige besonders vulnerable Familien untergebracht sind.

Die Zelte im Camp bieten kaum Schutz vor Wind und Wetter. Foto: Chris Schmid
Die Zelte im Camp bieten kaum Schutz vor Wind und Wetter. Foto: Chris Schmid
20.05.2021

Es kommen immer mehr Patient*innen zu unserem Praxis-Container. Sie warten in der Hitze, ohne Schatten und mit nur wenigen Sitzgelegenheiten. Im gesamten Camp gibt es kaum Bäume, es gleicht einer Steinwüste. Wie wird das im Juli/August? Mir wird immer bewusster, wie traumatisiert die Menschen sind. Die meisten sind bereits seit Jahren im Camp und haben Kälte im Winter und Hitze im Sommer schon einmal erlebt. Sie mussten in den vergangenen Monaten mehrfach umziehen, zuletzt in das neue Camp Kara Tepe 2. Viele Kinder, selbst Säuglinge, haben keinen Appetit mehr. Die Eltern wollen von mir wissen, ob etwas im Mund zu sehen sei, was diese Appetitlosigkeit erklärt. Natürlich findet sich hier keine Erklärung.

Ein Mann berichtet mir von angeblichen Schlangen, welche jede Nacht in sein Zelt kämen, um ihn und das Kind zu beißen. Ihm dies auszureden, gelingt mir nicht, er ist offensichtlich paranoid und verwirrt. Ich sage ihm, dass die Schlangen in Griechenland nicht giftig sind, in der Hoffnung, seine Angst zu lindern. Wie wird es wohl seiner Frau gehen, wenn ihr Mann in einer psychotischen Episode wild phantasiert? Der Mann hat keinerlei Chance auf irgendeine Art der Therapie. Er ist nur einer von vier Patienten mit ähnlichen psychiatrischen Symptomen, die ich an diesem Tag sehe. Das Camp erscheint mir als Pulverfass!

Einige Tage später präsentiert ein Mann eine über einen Meter lange Schlange, welche er in seinem Zelt gefunden und enthauptet hat. Habe ich dem Patienten Unrecht getan?

Ein 19-jähriger junger Mann besucht mich aufgrund seiner Migräne und sinusitischer Beschwerden. Seine Arme weisen tiefe Furchen der Selbstverletzung auf. Seine Augen sprechen Bände, ich möchte mir nicht vorstellen, was sie bereits gesehen haben. Sein Vater berichtet, dass der Sohn jegliche psychologische Betreuung ablehnt. Der andere Sohn sei dagegen in psychologischer Behandlung.

Ich lerne den 12-jährigen Omid kennen. Er kommt aus Afghanistan und lebt seit über einem Jahr auf Lesbos. Heute hat er Fotos und Fingerabdrücke für seinen neuen Pass gemacht. Er möchte am liebsten nach Deutschland ziehen. Die meisten afghanischen Flüchtlinge haben jedoch keine Chance auf Asyl in Europa. Ich bringe ihm dennoch ein paar Worte Deutsch bei und schreibe sie auf. Er will sie bis morgen üben und dann wieder kommen.

Dr. Gaertner bei der Arbeit im Camp. Foto. Chris Schmid.
Dr. Gaertner bei der Arbeit im Camp. Foto. Chris Schmid.

27.05.2021

Ich sehe eine Patientin, die wegen der Behandlung eines Abszesses an der Ohrmuschel dringend eine HNO-chirurgische Intervention benötigt. Die Patientin lässt sich an diesem Tag nicht von mir behandeln, jedoch verspricht sie mir, am nächsten Tag wiederzukommen. Ich werde sie nie wieder sehen. Die Behandlung vieler Patient*innen gestaltet sich schwierig, da viele zu schwach oder traumatisiert sind, um eine suffiziente Behandlung zuzulassen.

Gemeinsam mit einem griechischen Kollegen sehe ich einen 20-jährigen Patienten, welcher von seinem Freund auf dem Rücken in das Behandlungszimmer getragen wird. Er berichtet von einer seit Monaten zunehmenden schlaffen Lähmung mit Missempfindung der linken Körperhälfte und nun auch einer beginnenden Blasenentleerungsstörung. Nach Rücksprache mit einer befreundeten Neurologin in Deutschland sind wir uns einig, dass der Patient aufgrund des Verdachts auf einen Tumor eine umfassende Diagnostik in einem Krankenhaus benötigt. Aber die Klinik in Mytilini hat bereits angekündigt, bis September keine Patienten aus dem Camp mehr aufzunehmen! Danach erfahre ich, dass der Patient dreimal die Strapazen einer Fahrt ins Krankenhaus ohne Rollstuhl auf sich genommen hat und jedes Mal abgewiesen wurde.

Das Fazit meines Aufenthaltes: Nach einigen Tagen Arbeit in Kara Tepe 2 realisierte ich die Tatsache, dass wir uns in Europa befinden und dass ein Leben mit Kindern in einem Zelt, ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, direkt am Meer, jeglichen Witterungsbedingungen schutzlos ausgeliefert, keinesfalls tolerabel sein kann. Hinzu kommt, dass die Familien meist bereits seit mehreren Jahren in diesen Verhältnissen leben. Sie wurden mehrfach umgesiedelt und haben zuvor die unvorstellbaren Strapazen der Flucht hinter sich gebracht, um nun über viele Monate ohne Anspruch auf Grundrechte in einem Camp gefangen zu sein, in welchem Vergewaltigungen und Gewalt an der Tagesordnung sind. Auch andere Grundrechte werden ausgesetzt: So erhielten die Kinder in den letzten Wochen keinen Schulunterricht und die Bewohner*innen durften das Camp nur für drei Stunden pro Woche verlassen. Die psychische Belastung durch die Wohnsituation und die Tatsache, die Familie nicht beschützen zu können, scheint die Menschen zu lähmen. Die Perspektivlosigkeit, die Ohnmacht über das eigene Schicksal, insbesondere über den Ausgang des Asylantrags. Nicht zu wissen, ob der Bescheid wohl in einem oder in neun Monaten kommen wird. All das ist für für mich unvorstellbar. Eine psychologische Betreuung wäre sicherlich unabdingbar, um den psychischen Schaden in irgendeiner Form zu lindern. Dies ist aber nicht einmal für einen Bruchteil der Kinder möglich. Somit war es für mich auch nicht weiter erstaunlich, dass der Besuch bei mir als Ärztin zu einer willkommenen Abwechslung im Camp gehörte. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen das Gespräch suchten und war betroffen von dem Ausdruck in den Augen der Geflüchteten, in welchen die Traumatisierungen und Hoffnungslosigkeit in vielen Fällen so offensichtlich zu sehen waren.

Dr. Laura Gaertner hat ihre Eindrücke aus Kara Tepe 2 aufgeschrieben. Foto: Chris Schmidt
Dr. Laura Gaertner hat ihre Eindrücke aus Kara Tepe 2 aufgeschrieben. Foto: Chris Schmidt

 

 

 

 

 

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