Julia Brunner ist Referentin für Internationale Programme von Ärzte der Welt. Im Interview schildert sie Eindrücke von ihrer letzten Projektreise im November.
Julia, Du warst schon mehrmals in der Ukraine. Was ist Dir bei dieser Reise aufgefallen? Was war anders?
Es ist spürbar, dass der Versuch gemacht wird, eine politische Lösung zu finden, wie etwa in den Normandie-Gesprächen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ein großes Interesse daran, seine Wahlversprechen umzusetzen. Und ihm sind ja auch die Vereinbarungen, die in Paris während des Normandie-Treffens getroffen wurden, nicht weit genug gegangen. Das merkt jeder, der in den letzten Monaten in der Ukraine war.
Auch der Truppenrückzug an verschiedenen Stellen ändert jedoch an der Situation der Bevölkerung nichts. Auch wenn die Granateneinschläge in manchen Gegenden weniger geworden sind, wird das Waffenstillstandabkommen nach wie vor nicht eingehalten. Und die Gesundheitsversorgung hat sich deswegen auch nicht verbessert. Man merkt den politischen Aufbruch. Aber eine große Veränderung für die Bevölkerung ist noch nicht spürbar.
Wo warst Du in der Ukraine während Deines Besuches?
Wir haben zwei Regionen in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten besucht. Was mich da sehr berührt hat, waren die Gespräche mit den älteren Damen in den Gesundheitseinrichtungen. Sie sind sehr verzweifelt und müde. Sie wollen nur noch Frieden. Das geht einem schon sehr nahe, wenn sie da sitzen und sagen, es muss einfach aufhören.
Bei vielen ist die eigene Familie schon längst weggezogen?
Ja, oft sind die Familien weg. Aber selbst, wenn sie noch da sind: Nach fünf Jahren Konflikt – das ist im Jemen nichts anderes – sind die Leute einfach müde. Die Ressourcen sind aufgebraucht und es muss eine Lösung her.
Wie ist die Stimmung bei den Kolleg*innen im Team?
Ich konnte in Bachmut das ganze Team kennenlernen. Alle Mitarbeiter*innen sind sehr engagiert. Es ist ein sehr junges Team und ich war ganz begeistert, weil ich den Eindruck hatte, sie stehen hinter dem Projekt und wollen etwas bewirken.
Wie arbeiten das Team in Bachmut?
Unsere zwei Psychologinnen und die Hebamme fahren mit regulären, ansässigen Hausärzten an vier Tagen der Woche zu den Gesundheitseinrichtungen und versorgen Patient*innen. Das wird von der Bevölkerung sehr gut angenommen. Gerade die Hebamme – eine tolle, erfahrene Frau – wurde von allen sofort akzeptiert. Täglich steigen die Patientinnenzahlen. Sie schafft es auch, die Frauen davon zu überzeugen, dass es auch mit 65 oder 70 Jahren notwendig ist, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen und sich einfach ab und zu mal untersuchen zu lassen.
Sie arbeitet also mehr wie eine Frauenärztin?
Sie arbeitet nicht wie eine Hebamme in Deutschland, die ja in erster Linie für Schwangerschaften zuständig ist. Weil in diesem Gebiet 30 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sind und ein Großteil unserer Patientinnen ältere Frauen sind, geht es oft weniger um Schwangerschaft und Familienplanung als um Krebsvorsorge und Wechseljahre. Die Struktur im Bereich Frauengesundheit war vor dem Ausbruch des Konflikts schon nicht gut und viele der älteren Frauen waren schon seit zwanzig Jahren nicht mehr beim Frauenarzt. Die Zahl unserer Patientinnen mit Krebsdiagnosen ist leider extrem hoch, wie wir jetzt herausfinden. Vorher war bei den Frauen kaum ein Bewusstsein für diese Krankheit vorhanden.
Wie geht es für die betroffenen Frauen weiter?
Wir bieten die Basisversorgung, um die Krankheiten zu erkennen. Betroffene Frauen werden von uns dann weiterverwiesen an die nächsten Krankenhäuser, wo es dann auch Frauenärztinnen gibt.
Wie unterscheidet sich die Arbeit in den Regierungsbezirken Luhansk und Donezk?
In Luhansk gibt es kaum noch Ärzte und Ärztinnen und es gibt 60 Prozent zu wenig medizinisches Personal. Dort bestehen unsere Teams neben Krankenpfleger*innen auch aus Mediziner*innen.
In Donezk ist die Situation etwas anders. Dort fehlt zwar auch ein Großteil des medizinischen Personals, aber wir arbeiten wesentlich integrierter mit den Hausärzten vor Ort zusammen und versuchen, eine Art „Outreach“ zu schaffen: Sie gehen in die umliegenden Dörfer und anstatt einzelne Hausbesuche zu machen, bieten sie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine Sprechstunde an. So verbessern sie vor allem für die ältere Bevölkerung den Zugang zu Gesundheitsversorgung.
Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt unterstützt. Dennoch sind wir auf weitere Unterstützung angewiesen. Bitte helfen Sie der vom Konflikt betroffenen Bevölkerung in der Ukraine mit Ihrer Spende.